Wozu Ricardo fähig war.

 

Es war bereits dunkel und ab und zu traf ich mich vor ‚Schichtbeginn‘ mit Chris. So auch an diesem letzten Abend. Ein junger Kerl, gerade neunzehn geworden. Ich hätte so gern erlebt, wie er war, bevor das hier alles seinen grausamen Anfang nahm. Nur zu gern hätte ich einen lebensfrohen Chris erlebt. Auch er geriet ungewollt und unfreiwillig in die Fänge dieser Schweine. Er war nicht bereit zu akzeptieren, wie wir alle nicht. Alle Zeichen standen auf Krieg. Hatte er mehr Mut als ich? War er sich über die möglichen Konsequenzen nicht im Klaren oder ignorierte er die Drohungen Ricardos und seiner Lakaien? Oder nahm er das alles in Kauf, weil es letzten Endes nur eines gab was schlimmer war als das hier. Waren es letztlich die Drogen, die ihm den Blick auf die Realität, ja auf das Offensichtliche vernebelten? Drogen, die er nahm um sich zu betäuben. Chemie, die durch seine Adern floss und ihn von dieser Welt stahl. Das einzig Gute, was ihm auf dieser Welt noch geblieben war, war wohl der trügerische Frieden, den ihm dieser Mist bescherte. Ich konnte ihn nicht davon abbringen. Es war keine Frage von Stärke oder Schwäche zu realisieren, dass er mit seinem Leben spielte oder gar den Kampf gegen seine Abhängigkeit aufzunehmen. Hätte er seinen chemischen Frieden nicht gefunden, wäre er wohl noch früher von dieser Welt gegangen. Und auch wenn es hart klingen mag, so stelle ich mir in diesem Moment die Frage, ob es im Nachhinein überhaupt einen Unterschied gemacht hätte. Und selbst wenn, dann wäre ein selbstbestimmter Abgang aus der Hölle unter Umständen der ‚leichtere‘ Weg gewesen. Ganz gleich ob man im Falle eines Selbstmordes von Feigheit oder einem Davonstehlen sprechen mag, für mich stellt sich der letzte ‚selbstbestimmte‘ Akt im Leben eines Menschen anders dar. Letzten Endes gibt es auch hier verschiedene Dimensionen. Aber was Chris betrifft, so hat er zwar bewusst mit seinem Leben gespielt aber den letzten Akt hatte er nicht im Visier. Irgendwo steckte da noch ein Funken Überlebenswillen in ihm, vielleicht sogar Stolz. Und diesen Stolz oder vielmehr das, was davon noch existierte, wollte er bewahren. Wohl auch weil es das einzige war was er noch besaß.

An diesem besagten Abend trafen wir uns. Wir sprachen wie immer über den Ekel als unseren ständigen Begleiter. Sprachen über gewisse Freier. Über deren Vorlieben. Über seinen Wunsch überhaupt nie hier gewesen zu sein. Seine Augen sprachen Bände. Seine Lippen zitterten und seine Nervosität äußerte sich indem er an seinen Fingernägeln kaute. Nach etwa einer halben Stunde bekam ich eine Nachricht auf meinem ‚Diensthandy‘. Ziemlich früh, was für einen Kurztermin sprach. Ich beendete unser Gespräch und wir verabredeten uns für das Ende der Nacht. Ein zweimaliges Klingeln wäre das Zeichen für das ‚Schichtende‘. Ich befolgte die Anweisungen, die mir per Handy mitgeteilt wurden, verabschiedete mich von Chris und verließ das Café nahe dem alten Rathaus. Anweisungen per Handy, deren Inhalt mich über den Treffpunkt, Namen des Kunden, und gewünschte Extras informierte. Doch allein der Name reichte meist schon aus und ich wusste sofort in welche Rolle ich zu schlüpfen hatte. In mir gab es eine Art Aktenschrank und in ihm fanden sich die Profile all dieser Männer wieder. Alles war vertreten. Einer dieser Männer hielt es für das Normalste der Welt sich allen Ernstes Romantik erkaufen zu können. Ich tat was in meiner Macht stand, um ihn zufrieden zu stellen.  Ein anderer hingegen trug stets und ständig eine venezianische Maske. Er schien zur Kälte und Härte erzogen und was er forderte war Härte. Manche dieser Männer strebten ausschließlich sexuelle Befriedigung an, das schloss Praktiken ein, die ich bis heute nicht von mir abwaschen kann. So heiß ich auch dusche, ganz gleich, ich hab noch heute das Gefühl, ich wäre erst gestern mit dem letzten Freier zusammen gewesen. Wieder andere wollten mehr über mich erfahren, sie bestanden darauf mein Leben präsentiert zu bekommen. Wie oft habe ich mir Dinge zusammengereimt, habe die Geschichte eines jungen Mannes erzählt den ich nicht kannte. Dies ist nur ein Auszug aus diesem Aktenschrank. Wie ich schon sagte, alles war vertreten. Und es gab nur wenige Grenzen.

Der Weg von hier bis zum Hauptbahnhof bot genügend Zeit um mir die erforderliche Maske aufsetzen zu können. Ein Prozess, der eine gewisse Zeit in Anspruch nahm.

Gegen Null Uhr morgens war mein Termin vorbei. Die Dusche befreite mich vom Geruch und von den Körperflüssigkeiten des Mannes, mit dem ich zwei Stunden zu verbringen hatte. Zwei Stunden Bühne. Und auch dieses ‚Stück‘ wurde in der Hölle geschrieben. Ich verließ das Hotel und wurde meinem Versprechen an Chris gerecht. Ich wählte seine Nummer, ließ es zweimal klingeln und bekam kurz darauf ein ebensolches als Antwort von ihm. Der Treffpunkt war klar und so machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich lief nicht lang bis zu dieser kleinen Bar mitten in der Innenstadt. Eine Träne lief mir die Wange entlang, ich weiß es noch so genau als wäre es gerade eben erst passiert. Diese eine Träne landete auf der Packung Davidoff, die ich gerade in meiner Hand hielt. Ich zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und inhalierte tief und kräftig. Diese Scheiße muss aufhören. Irgendwie. Nur wie verdammt? Nur wie? Ich hab’s so satt! Eine Straßenecke weiter sah ich ihn schon stehen. Nervös wie eh und je. Und je näher ich ihm kam desto kaputter wirkte er auf mich. Er schien unheimlich aufgeregt und aufgebracht zu sein. Blickte ständig um sich. Sein Verhalten machte mich nun auch nervös. Ich ließ die Zigarette fallen, sagte kein Wort und nahm ihn in den Arm. Er fand keinen Weg um mit all diesem Dreck klar zu kommen. Vielleicht gab es für ihn auch überhaupt keinen Weg um durchzuhalten. Für ihn hieß es ausschließlich zu fliehen oder zu verrecken. Ihm blieb keine Wahl. Dessen bin ich mir heute noch mehr bewusst als damals. Es schien beinahe so als wollte er unsere Umarmung gar nicht mehr lösen, so fest drückte er sich an mich. Wie ein Schutz suchendes Kind. Er tat das, was ich nur zu gern tun würde. Doch ich musste stark sein. Sein Herz pochte wie wild und sein ganzer Körper schien aus Stein gehauen zu sein, so angespannt war er in diesem Moment. Ich tat das, was meine Mutter tat um mich zu beruhigen als ich noch ein Kind war. Ich begann ihn sanft zu wiegen und obwohl ich zu dieser Zeit selbst nicht daran glauben konnte, so sprach ich ihm Worte ins Ohr, die nicht nur ihn, vielmehr ein Stück weit auch mich beruhigen sollten. >>Alles wird bald wieder gut. Ich verspreche es Dir.<< Kein weiteres Wort kam mir mehr über die Lippen und ihm ebenso wenig. Ich gab ihm ein Versprechen, das ich im Grunde genommen überhaupt nicht halten konnte. Reine Rhetorik, nichts woran ich selbst zu glauben wagte. Wenn man so will war es bereits gebrochen als ich es aussprach.

Ich trank in dieser Nacht noch ein Bier mit Chris. Er sprach davon in den nächsten Tagen verschwinden zu wollen. Vielleicht sogar morgen schon, wenn sich die Gelegenheit bieten würde. >>Ich muss hier raus. Muss hier weg. Ich geh‘ hier ein. Das ist alles nicht richtig. Ich gehöre hier nicht hin. Ich hätte hier nie landen dürfen. In dieser verfickten Scheiße. Ich kotze auf Leipzig und auf diese perversen Dreckschweine.<< Oh Gott, wie oft höre ich seine Worte noch heute. Nachts. Dann wache ich auf, schweißgebadet. Er sagte die Wahrheit und verlieh ihr verdammt nochmal Ausdruck. So sehr, dass nun die Augen aller anderen Gäste in dieser Bar auf uns gerichtet waren und gerade hier in dieser Stadt war ich mir nicht ganz sicher, ob nicht doch in irgendeiner Ecke einer von Ricardos Lakaien saß. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken daran. >>Ich kotze auch auf diesen Mist und ich kotze jeden einzelnen beschissenen Tag. Wer von uns gehört schon hier her? Mmh? Und jetzt lass uns hier verschwinden. Komm.<< Ich sprach so leise, dass selbst ich kaum verstand was ich sagte. Doch er verstand sehr gut, erhob sich, legte das Geld für sein Bier auf den Tisch und verließ mit mir diese Bar. Wenn wir uns trafen trennten sich unsere Wege für gewöhnlich sofort nach dem Verlassen der Bar oder eben des Ortes an dem wir uns trafen. Nie war es die gleiche Bar, nie das gleiche Café oder der gleiche Hinterhof. Doch in dieser Nacht war es anders. Ich beschloss ein Stück weit mit ihm zu gehen, nur um sicher zu gehen, dass er sich wieder fing und sich etwas beruhigte. Zu groß die Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte. Er ging wohl den Weg den er immer ging. So zielstrebig und mit gesenktem Kopf. Die Jacke bis oben geschlossen. Die Schultern angezogen. Der Kragen reichte beinahe bis zu seinen Ohren. Mehr oder weniger lief ich mit ihm und eigentlich lief ich nur neben ihm her. Er gab den Weg vor. Stumm. Ich folgte. So wurde es immer stiller um uns herum und keine Menschenseele war mehr zu sehen. Mir war es fast schon zu still. Viel zu still. Beinahe erdrückend. Die Geräusche unserer Schritte schallten durch diese enge Gasse, die wir gerade entlang liefen. Ich hörte Chris atmen, schwere tiefe Stöße, bald so als ob er gerade joggen war oder eine schwere Last mit sich trug. Ich denke es war die Last dieser Stadt. Die Bürde Leipzigs. Das gewichtige Übel, welches Ricardo uns aufbürdete. Das war es wohl, was ihm die Kehle zuschnürte. Er versuchte Frust und Wut und auch Angst von sich zu stoßen, die ohne Frage wie eine zentnerschwere Last auf seiner Brust lagen. Wer wenn nicht ich könnte je verstehen wie es ihm in diesem Augenblick ging. Wie tief seine Verzweiflung saß und wie gefangen er war. Ich sah zu ihm herüber. Seinen Blick stur geradeaus gerichtet schien er wild entschlossen zu sein. Wollte er es tatsächlich wagen? Würde er schon morgen verschwunden sein? Über alle Berge. Könnte er es schaffen? Mit viel Kraft, viel Glück und einem Ziel, das ganz weit weg ist von diesem Ort? Er kniff seine Augen zusammen, fast so als wollte er etwas fixieren. Instinktiv folgte ich seinem Blick und was ich sah ließ ein heftiges Zucken durch meinen Körper schießen. Dieses Zucken war mir vertraut. Da waren sie wieder, meine Angstblitze. Das Kind zuckte auch als es den Alkohol roch und die Aggressionen seines Vaters zu spüren bekam.

Im diffusen Licht der Laternen waren Gesichter nicht zu erkennen und doch war mir klar wer uns da entgegentrat. Diese ganze Situation roch nur zu sehr nach Ricardo. Dies war seine Inszenierung. Das plötzliche Auftauchen seiner Lakaien der Paukenschlag, welcher ein grausames Stück eröffnete. Welche Handlung es haben würde ließ sich nur erahnen. Auch diese Szene wurde dem Fluch dieser Stadt gerecht. Wieder wurden wir unfreiwillig zu Protagonisten einer neuerlichen Geschichte mit miesem Beigeschmack. Wie viel Dreck gilt es noch zu ertragen? Wie lang kann ich das noch aushalten? Fragen die mich quälten. Fragen, die mich in den Wahnsinn trieben. Immer weiter in den Wahnsinn.

Seine Marionetten hatten kein Gefühl, nichts menschliches an sich. Er hielt die Fäden in der Hand und er tat wonach ihm war. Seine Späher hatten uns erwischt. Hier und jetzt. In diesem Moment. In dieser Gasse. Adrenalin schoss durch meine Adern. Mein Blut schien zu kochen. Erregung, die mir keinen Kick gab. Eher jene, die einer aufsteigenden Panik gleichkam.

Ich sah zu Chris. Unsere Blicke trafen sich in einem Moment, in dem uns wohl beiden bewusst war, dass dies eine unheilvolle Begegnung war. Große Gestalten, bullige Männer kamen auf uns zu. Sie waren vor uns und sie waren hinter uns. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Das wilde Durcheinander von Gedanken und Wortfetzen in meinem Kopf verstärkte sich noch mehr als ich die Hilflosigkeit und Ohnmacht in Chris‘ Augen sah. Sein ganzer Körper schien nach Hilfe zu schreien. Nach der helfenden Hand zu suchen. In diesem Moment vermochte mir keine Maske Schutz zu bieten. Ich war von dieser Begegnung, von dieser Situation so überfordert, mein Innerstes so konfus, dass ich es nicht zustande brachte in irgendeiner Weise Schutz zu finden oder gar zu bieten. Schutz aufzubauen, eine Maske zu finden oder auch nur eine einzige von ihnen zu fixieren und zu erkennen. Diese überhaupt ausfindig zu machen. In meinem Kopf herrschte Chaos. Ein wahnsinniges Spektakel. Wie ein Maskenball unter Drogen. Ich bekam nicht eine einzige meiner Masken zu fassen. So stand ich schutzlos in dieser Gasse. Nahezu nackt. So fand sich das Kind in dieser Gasse wieder. Es schien fast so als stünden alle Zeichen auf Sturm in meinem Kopf. ERROR.

Ich war wieder acht Jahre alt. Ich sitze ganz vorn, quasi neben dem Busfahrer. Dann steigt der dicke Mann in den Bus und drängt mich mit seinem massigen Körper gegen das Fenster.

Nun war diese Gasse mein Bus. Ricardos Lakaien wie der dicke Mann. Auch hier keine Chance auf ein Entkommen ohne Hilfe. Und diesmal war keine Hilfe in Sicht. Keine Schutzengel. Keine rettende Hand in letzter Sekunde. Nichts. Ganz Kind. Ganz hilflos. Ganz acht.

Sie kamen näher. Vor uns. Hinter uns. Wir waren das Vieh, das von seinen Schlächtern in die Ecke gedrängt wurde. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen. Chris nahm meine Hand. Sie war kalt und feucht. Sein Puls raste mit meinem um die Wette. Es schien beinahe so als wollten sie sich in ihrer wahnsinnigen Irrfahrt gegenseitig übertrumpfen. Sein Puls. Mein Puls. Gemeinsame Fahrt in Richtung Abgrund. Rasen um die Wette. Gemeinsam zum Abgrund. Hand in Hand.

Den größten und massigsten von diesen Schweinen nannte ich Balu. Welch eine Ironie. Dies war kein liebevoll tapsiger Bär. Er war es, der nun direkt vor uns stand. Balu. Einer der Schlächter und die rechte Hand Ricardos. Der Mann fürs Grobe. Einer der sein Geschäft verstand. Einer der seinen Job liebte, seinen Boss liebte und Gewalt lebte. Nie könnte ich die Stunden in diesem Hinterzimmer vergessen. Test. Bewerbungsgespräch ohne zu reden. Ohne Worte. Ganz Hülle. Mehr war ich nicht. Mehr blieb mir nicht übrig. Und nie vergesse ich meine Begegnung mit diesen acht Gesichtern. Denn Balu war es, dem Ricardos Nicken damals ein Zeichen war und die Tür hinter mir schloss als ich diesen Raum betrat. Sein ekelhaftes Grinsen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt als mein Martyrium begann seinen Anfang zu nehmen. Und dieser Mann ist es, der nun vor mir steht. Vor Chris und mir. Sein fratzenhaftes Gesicht weckte Wut in mir und löste Ekel in mir aus. >>Du hast die Wahl zu gehen, Patrice!<< Seine Stimme war Drohung genug. Doch was er sagte und vor allem wie er es sagte, fachte die Panik in mir nur noch mehr an. Ich hielt Chris‘ Hand noch fester. So fest, dass es weh tat. >>Lasst uns gehen. Es ist nichts passiert.<< Meine Stimme klang zitternd und flehend. So wie es noch heute der Fall ist, wenn ich mich in die Ecke gedrängt oder herausgefordert fühle. Ein Erbe Leipzigs, dass mich noch heute, Jahre später, zeichnet. Mein Magen verkrampfte sich. Ein massives Pochen in meinem Kopf machte es mir unmöglich klar zu denken. Das Kind in mir wollte weinen, es verlangte nach Gnade und suchte vergeblich nach einem Funken Menschlichkeit. Vergeblich.

Was dann geschah löst noch heute Wut, Entsetzen, Panik und ohne Frage noch immer Trauer und Lähmung in mir aus. Balu wandte sich an Chris und schenkte mir keine Beachtung mehr. Als ich das Wort ergriff und das Wort ‚uns‘ aussprach war ihm klar, dass ich nicht vor hatte zu gehen. Kein Zweifel, er beabsichtigte nicht uns gehen zu lassen. >>Chris, Chris, Chris.<< Die Art und Weise wie er seinen Namen aussprach, der Unterton in Balus Stimme und das folgende Schnalzen mit seiner Zunge ließ mich aufs Neue erzittern. Chris selbst stand regungslos da. Er verzog keine Miene stand nahezu apathisch in dieser Gasse. Seine Hand immer noch fest in meiner. >>Du hast also den Wunsch uns zu verlassen!? Das ist ziemlich undankbar von dir, findest du nicht? Wir haben dich aus dem Dreck geholt. Hierher zu uns ins ‚schöne‘ Leipzig. Wir haben dir einen Job besorgt. Wir kümmern uns um dich. Wir behüten dich. Bieten dir Schutz. Wir sind deine Familie! Und nun willst du uns allen Ernstes verlassen? Willst einfach so verschwinden.<< Er sprach langsam. Sein überhebliches Getue löste Ekel in mir aus. Noch immer keine Regung von Chris. In mir stieg Wut auf. Wieso sagt Chris nichts? Was soll das alles? >>Er ist doch hier! Was wollt ihr eigentlich? Er hat nicht vor zu verschwinden!<< Ich versuchte so klar und ruhig wie nur möglich zu sprechen. Einen angemessenen Tonfall gab es nicht. Eigentlich hätte ich überhaupt nichts sagen sollen. Balus Blick gab mir das auch nachdrücklich zu verstehen. Im ersten Moment rechnete ich fest damit die ganze Wucht seines massigen Körpers zu spüren zu bekommen. Doch es geschah nichts. Er ignorierte meine Worte. Sein harter Blick war die einzige Reaktion. >>Hast du doch nicht, Chris! Stimmt doch!<< Ich konnte nicht an mir halten. Irgendetwas musste ich tun. Chris‘ Schweigen machte mich wahnsinnig. Verdammt nochmal warum sagst du nichts? Ich habe vieles zu ertragen gelernt. Doch mit diesem Schweigen konnte ich nicht umgehen. Sollte er nicht versuchen sich irgendwie aus dieser Misere zu befreien? Und sei es mit einer Lüge! Ganz gleich ob diese Schweine ihr Glauben schenken oder nicht. Er hätte es einfach versuchen sollen. War es nicht spätestens jetzt an der Zeit das Schweigen zu brechen? Sag irgendetwas. Kämpfe. Versuche es doch bitte! Selbst wenn es das letzte Mal ist. Aber bleib nicht stumm. Er schaute zu mir, unsicher und ängstlich. Ein junger Mann. Fern ab von dem, was er früher für sein Leben hielt. Fern ab von allem, was man normal nennt. Dieser Ort schien ihm alles genommen zu haben. Freude, Glück, Hoffnung. Zustände, die ihm fremd geworden sind. Die ihm wie aus einer anderen Welt zu sein schienen. Nun schien dieser Ort gänzlich seinen Willen gebrochen zu haben. Nichts schien ihm noch Kraft zu geben. Nichts woran er festhalten könnte. Wohl auch nichts, was ihn dazu gebracht hätte zu kämpfen. Auch nicht in einer derart unheilvollen Situation wie dieser. So stand er nur da, mit versteinerter Miene und verkrampftem Körper. Was hätte er auch tun sollen? Was hätte er ausrichten können? Ich will ehrlich sein. Ehrlich zu mir und ehrlich für ihn. Nichts hätte er tun können um das, was in dieser Gasse geschehen ist zu verhindern oder auch nur zu beeinflussen. Doch er hätte ein letztes Zeichen setzen können. Zeichen, dass er einen starken Willen hat. Dass er einen Überlebenswillen hat. Und auch ein Zeichen, dass er sich bis zuletzt nicht hat brechen lassen. Ob er es nicht konnte oder den Willen einfach nicht mehr besaß wird wohl für immer im Dunklen bleiben. Er gab keine Antwort auf Balus Fragen. Keine Reaktion auf dessen Vorwürfe und Erniedrigungen. Leerer Blick. Hängende Schultern. Tränen stiegen mir in die Augen. Die Unsicherheit darüber, was in den nächsten Minuten passieren könnte machte mich beinahe wahnsinnig.

In dieser Gasse wurde ein Licht ausgelöscht. Hoffnung auf ein freies Leben vernichtend geschlagen. Der Wunsch Liebe leben zu können, Liebe zu erfahren in die Ecke gedrängt. Ohne Entkommen und ohne Chance überleben zu können. Vor meinen Augen wurden die Waffen gewetzt. Bereit zur Schlacht. Meine Knie taten unheimlich weh. Die Pflastersteine waren nass und kalt. Schmerzen zogen sich von Kopf bis zum Steiß. Die dreckigen Hände einer dieser Bestien gruben sich in mein Haar und zogen mich nach hinten. Mit einem Knie in meinem Rücken wurde ich zurückgezogen. Warm und nass lief dickes Blut aus meiner Nase in meinen Mund und weiter mein Kinn herunter. Tropfen lösten sich und fielen auf meine Oberschenkel. Ich konnte die dicken, schweren Tropfen beinahe fallen hören. Das kalte Metall der Handschellen schnitt sich in meine Handgelenke. Kein Fleisch mehr? Nur mehr Knochen? Keine Möglichkeit mich zu befreien. Allein das Atmen ist schon eine Herausforderung. Mein Kehlkopf scheint im Weg zu sein. Ein fetter Kloß in meinem Hals.

Ihm blieb nur der Gedanke an Flucht und die Hoffnung, die er darin setzte. Die Chance, die Gelegenheit zu fliehen bot sich ihm nicht. Die Gasse durch die wir an unserem letzten gemeinsamen Abend liefen erwies sich als eine Sackgasse. Letzter gemeinsamer Ort. Ein letztes Mal gemeinsam. Wir rasten auf den Abgrund zu und er war es der abstürzte. Und ich fand mich in der Rolle desjenigen wieder, der ihm hilflos dabei zusehen musste. Ich konnte nichts für ihn tun. So sehr ich auch wollte.

Nur zu gern hätte ich den nächsten Morgen erlebt, in dem Bewusstsein, dass er sich irgendwo da draußen befand. Irgendwo. Nur nicht hier. Auf sich allein gestellt und vom Kitzel der Flucht getrieben. Scheu und auf der Hut. Stets und ständig mit der Gefahr im Nacken unterwegs erwischt zu werden. Den Spähern in die Arme zu laufen. Jede Minute mit dieser Angst leben zu müssen. Aber am Leben. Wie gern hätte ich ihm auch nur einen einzigen Fluchtversuch gegönnt. Ganz gleich durch welche Widrigkeiten er hätte steuern müssen. Aber allein das Gefühl, das Ruder endlich wieder selbst in die Hand nehmen zu können und es endlich rumreißen zu können hätte ihm schon wieder Auftrieb gegeben. Hätte ihm wieder einen Sinn und einen Grund zu leben geschenkt. Hätte ihn atmen lassen. Und irgendwann vielleicht hätte ich ein kleines Lebenszeichen von ihm erhalten und ich wäre stolz und dankbar gewesen. Denn einer, ja wenigstens einer von uns hätte den Mut bewiesen und seine Freiheit nicht nur erkämpft sondern auch neu entdeckt. Einer von uns hätte sich durch die Dunkelheit gekämpft. Zurück ins Licht und zurück ins Leben gekämpft. Gedanken wie diese sind es, die mir durch den Kopf schießen wenn ich an Chris denke. In letzter Zeit trifte ich ziemlich oft ab und bin in Gedanken bei ihm. Gerade jetzt in dieser Zeit, wo ich diesen ganzen Dreck hinter mir gelassen habe. Gerade jetzt, in einer Zeit des Innehaltens und Verdauens. Diesem jungen Kerl war noch nicht einmal ein Fluchtversuch möglich. Nun bin ich es, der mit viel Glück und unerwarteter Hilfe in einem Garten mitten in Deutschland sitzt und versucht mit dem Erlebten klar zu kommen. Der sich erinnert und sich mit schmerzhaften Erinnerungen quält. Nun bin ich es, der den Weg zurück in die Freiheit gefunden hat. Ich bin es, der im Licht sitzt und der entkommen ist. Nicht er. Nicht Chris. Ich habe das größte Geschenk erhalten, welches die Welt in dieser Zeit für mich bereithalten konnte. Und das nach all der Zeit fernab eines ‚normalen‘ Lebens. Ich hatte mich bereits meinem Schicksal ergeben. Hatte mich dem Schatten gebeugt und gelernt ohne Licht zu leben. So sehr, dass man mich beinahe zur Freiheit hatte zwingen müssen. Denn alles was ich fühlte war Angst. Nichts weiter als nackte Angst die keine Grenzen kannte. Freiheit als neuerliche Bedrohung. Schwer zu verstehen aber so empfand ich tatsächlich.

Für mich wurde der Dreck, wurden die schwarzen Limousinen, die Hotels und die Hingabe meines Körpers zur Normalität. Was für eine Normalität! Ein schlechtes Leben. Und doch mein Leben. Ein neues Leben. Ein anderes Leben. Ein Leben in Gesellschaft und doch kalt und einsam. Leben das mich quälte. Welches mir keine Wahl ließ. Verrecken oder existieren. Schmink dir ab leben zu wollen. Schmink dir ab das leben zu wollen, was sich zu leben lohnt. Das was jeder freie Mensch sich unter ‚Leben‘ vorstellt, was er darunter versteht und auch nicht in Frage stellt.

Wie wundervoll es doch sein muss sich ‚nur‘ mit ‚alltäglichen‘ Sorgen und Problemen auseinanderzusetzen. Wie es sich wohl anfühlt einen ‚gewöhnlichen‘ Alltag zu leben. Ich habe keine Erinnerung mehr daran.

Nun war sie da. Freiheit. Hart erkämpfte Freiheit und vorerst auch nur Freiheit meines Körpers. Doch es ist Freiheit. Frei von Leipzig. Frei von Ricardo. Frei von all den Männern. Frei von Repressalien und Gewalt, welcher Natur auch immer. Es ist schwer zu begreifen wie sich die Dinge entwickelt haben. Das sich mir überhaupt die Möglichkeit bot der dunklen Stadt den Rücken zu kehren und dem Licht entgegen zu gehen. Blendendes Licht. Viel zu grell für entwöhnte Augen. Wie nur damit umgehen? Wie damit fertig werden? Auch ein neues Gefühl von Leben, welches durch meine Adern floss und immer noch fließt. Schwer zu akzeptieren und schwer zu verstehen. Gerade auch weil ich einen hohen Preis zahlen musste. Denn die Möglichkeit zur Flucht aus Leipzig war das Resultat eines tiefen Stiches. Und wieder sehe ich mich die Wohnungstür in der Aurelienstraße aufschließen. Ich öffne die Tür. Sonnenstrahlen lassen das Laminat im Flur erhellen. Widerstand hinter der Tür. Ich mache einen Schritt nach vorn. Ich drehe mich um. Der Widerstand trägt einen Namen, hat eine Fratze und ein Messer.

Er hätte mein Leben beinahe beendet. Ausgelöscht. Und wenn es so gekommen wäre? Oft kam mir der Gedanke, dass er es hätte zu Ende bringen sollen. Glücklich war ich nicht. Ich hing zu dieser Zeit nicht an meinem Leben. Ertragen ließ mich diesen Dreck nur der Gedanke daran, meine Familie zu schützen. Sie schützen zu müssen. Ständiger Kampf um den Erhalt einer Illusion. Illusion von einer heilen Welt. Seifenblase. Es ist ohne Zweifel nur eine Frage der Zeit bis diese platzt. Und was dann? Fakt ist, die heile Welt von damals existiert nicht mehr. Sie ist um Dimensionen gewachsen. Schwer zu beschreiben. Einfach alles ist anders. Ich hatte Jahre Zeit um die Dinge so zu sehen wie sie sind. Jahre in denen ich zu lernen hatte, das Himmel und Hölle so nahe beieinander liegen. Jahre in denen ich begriff, dass sich die Tore zur Hölle verdammt schnell auftun. Zeit, die meine Familie nicht hatte. Sollte nun also ein erneuter Kampf anstehen? Neue Front. Kampf um die Wahrheit. Eine Wahrheit, die ich meiner Familie so lange Zeit schon schuldig bin. Doch laufe ich Gefahr diesen Kampf zu verlieren. Aus Angst und Scham den Mut nicht aufzubringen meine Vergangenheit zu offenbaren und mein neues Ich in die Welt meiner Eltern, in die Welt meiner Familie zu setzen. Ich laufe Gefahr meine Eltern in Verzweiflung und Chaos zu stürzen. Mein Bestreben sie davor zu bewahren aufzugeben. Das Bestreben, welches mich letzten Endes am Leben hielt. Es fühlt sich beinahe so an als würde ich lebenserhaltende Maßnahmen einstellen und darauf hoffen, von selbst lebensfähig zu sein. War der jahrelange Kampf um die Unversehrtheit meiner Familie nicht der letzte Sinn meiner Existenz gewesen. Existenz einer Seifenblase. Gut behütet und umsorgt. Habe ich nicht alles getan um eine Illusion, um eben diese Illusion am Leben zu halten? Was, wenn dieser Sinn noch heute Lebensspender ist? Was, wenn ich es bin, der das was er schützen wollte selbst in den Tod stürzt? Was wenn ich es bin, der seinem Leben aufs Neue einen KO-Schlag versetzt?

Denn auch die Wahrheit über meine Vergangenheit offenzulegen und das große Geheimnis zu lüften wird erneut alles auf den Kopf stellen. Wird mein Leben aufs Neue komplett und radikal verändern. Und diesmal wird mein Schmerz zum Schmerz meiner Familie werden. Am schlimmsten, wenn man überhaupt derartige Gedanken und Ängste auf Papier bannen kann, sitzt mir die Angst um meine Mutter tief im Herzen. All dies wird wie für meinen Vater und auch für den Rest meiner Familie nur schwer zu verstehen und zu verkraften sein, doch das Herz einer Mutter wird bluten wenn sie die Geschichte ihres Kindes erfährt. Nicht über das geschriebene Wort, soviel ist gewiss und so darf es auch unter keinen Umständen passieren. Es braucht Ruhe, einen intimen Raum und nicht zuletzt das Gespräch zwischen Mutter und Sohn.

Es heißt, man soll ein Messer nicht einfach so aus der Wunde ziehen. Es heißt, so verblute man schneller. Die Wahrheit ans Licht zu bringen ist wie das Herausziehen der Klinge. Worauf ich hoffe ist, dass ich nicht allein bin sobald ich es wage diesen letzten Schritt zu tun. Ich hoffe auf einen Partner an meiner Seite der meine Geschichte kennt und akzeptiert. Einen Mann der mir Treue schwört. Einen Mann, der es verdient das größte Geschenk zu erhalten, das zu geben ich überhaupt imstande bin. Ich hoffe auf diesen einen Menschen in der Welt. Und ich hoffe auf meine Familie. Hoffe darauf, dass sie mich eines Tages in ihre Arme schließen wird in dem Bewusstsein, dass ich es bin der überlebt hat. Denn trotz allem ist das Überleben des Kindes das einzige was wirklich zählt. Trotz allem bin ich immer noch das Kind meiner Eltern und der Bruder eines Bruders.

Wie viel Blut werde ich verlieren? Wie viel Schmerz und Kummer erwartet mich aufs Neue? Wie viele Narben werden sich zu denen gesellen, die meine Seele bereits zeichnen? Wundmale auf meiner Seele. Landkarte meiner Qualen. Narben, dich ich wenn überhaupt nur für kurze Zeit verbergen kann.

Ist dies der Grund dafür, dass Männer kommen und Männer gehen? Ist dies der Grund für mein Leben im Überall und Nirgends? Ist es die Angst davor, dass meine Narben entdeckt werden? Halte ich es deshalb nur für kurze Zeit mit einem Mann aus? Doch wie habe ich es dann geschafft eine Beziehung zu einem Mann zu führen, die dreieinhalb Jahre währte. Wo nahm ich die Kraft her? War es denn wirklich mein selbstgestecktes Ultimatum? Einen Versuch wagst du noch! War es mein Wunsch nach einer Illusion? Illusion von einer heilen Welt? Vielleicht war es so. Schon möglich, dass ich mich an ein Wunschbild klammerte und aus Angst es zu verlieren immer fester zudrückte. Doch so sehr ich zudrückte, so sehr gab ich mich für eine Beziehung auf, die meinen Bedürfnissen nicht einmal ansatzweise gerecht werden konnte. Und umso mehr entzog sich mir dieser Mann. Und war sein Verrat an meiner Liebe letztendlich der Urknall. Alles vernichtender Urknall? Stand der Abriss einer Ruine auf dem Plan? Liegt auch hier der Grund für dieses ‚überall und nirgends‘?

Bleibe ich gerade so lange, dass ich immer noch ein Rätzel zurücklasse, wenn die Zeit gekommen ist die Tür hinter mir zu schließen? Werde ich denn je in der Lage sein, mich einem Mann ganz und gar zu offenbaren? Sollte es mir irgendwann ein letztes Mal möglich sein, mein Leben in all seinen Facetten preiszugeben und es in die Hände eines mich liebenden Mannes zu legen? Werden ich die Kraft dazu irgendwann noch einmal aufbringen können? Schmerzende Frage. Bohrende Frage. Und eine der Fragen, auf die mir das Leben eine Antwort schuldig bleibt. Eine Antwort, die ich mehr brauche als alles andere auf der Welt. Ohne Antwort keine Basis. Ohne Basis keine Chance auf ein Leben als ich selbst. Keine Chance auf einen Neuanfang der Erfolg verspricht. Jeder Tag des Wartens, des Suchens und des erneuten Fragestellens ist ein Tag, welcher vergebens gelebt ist. Doch welche Bedeutung kommt dem Vergeblichen zu? Vielleicht sollte ich die Zeit des Wartens und des Suchens als eine Art Vorbereitung begreifen.

Nach Leipzig versuchte ich Trost in der Religion zu finden. Ungeachtet meines Haderns mit Gott. Ich suchte den Kontakt zur Kirche, suchte nach einem neuen Zugang zu Gott oder zu dem was Gott genannt wird. Es gab Treffen mit dem Pfarrer und dem Kaplan. Es ging gar soweit, dass ich mich der versammelten Gemeinde vorstellte, Gebete sprach und das Buch der Bücher geschenkt bekam. Zusammen mit der alten Familienbibel von Oma aus dem Jahre 1900 besitze ich nun vier Exemplare. Ich knüpfte Kontakte zu verschiedenen Klöstern. Eine Zeit lang herrschte ein reger Briefwechsel. Ich bekam warme und gütige Worte zu lesen. Wurde von Brüdern und Prioren eingeladen eine Zeit lang deren Gast zu sein. Mitunter saß ich in Gedanken versunken auf meinem Bett und stellte mir die Frage, ob es denn der richtige Weg sei mich hinter Klostermauern zu verschanzen. Würde ich dort die Kraft finden um meine Seele zu heilen? Wer weiß das schon. Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht, ich habe gekniffen und auch Gebete vermochten mir nicht das zu geben was ich brauchte. Sie schenkten mir keinen nachhaltigen Frieden. So lehnte ich mich an die Schulter eines Mannes und hoffte sein Leben atmen zu können. Kraft gebende Hoffnung. Leben spendend. Ich glaubte meine Basis nun endlich gefunden zu haben und gab mich diesem neuen Leben voll und ganz hin. Gab mich unserer Sache und vor allem ihm voll und ganz hin. Er schien für einen Augenblick mein Ziel gewesen zu sein. Leipzigs Schatten waren auch nach etlichen Monaten immer noch präsent aber ich lernte es auszuhalten und meine einzige mir noch verbliebene Maske gab mir Kraft für diese Beziehung und Kraft für ein Leben in vermeintlicher Freiheit. Doch wirkliche Ruhe, wirklichen Frieden fand ich nie. Ich baute so sehr auf uns und so sehr auf ihn. Glaubte an meine Erlösung durch Liebe. Glaubte an seine Liebe und die Aufrichtigkeit und Tiefe seiner Gefühle. Glaubte daran, dass sie ehrlich und aufrichtig waren. Dass diese Liebe wahrhaftig war. Ich legte alles was ich war in seine Hände. Ich hoffte nur zu sehr endlich gefunden zu haben wonach ich dem Grunde nach schon so viele Jahre suchte. Doch mein Erwachen aus diesem Traum kam plötzlich und ohne Vorankündigung wich die Hoffnung einer tiefen Enttäuschung. Diese kam definitiv einem emotionalen KO-Schlag gleich. Hat mich tief im Innersten ins Wanken gebracht. Ich fühlte mich tot. Alles um mich herum brach ein. Ich war es, der in seinem Elfenbeinturm saß, welcher in jedem Moment zu zerbersten drohte. Die Nacht legte sich um meinen Seelenpalast. Das Land auf dem er einst stand war verschwunden. Land meines Lebens. Nichts war geblieben. Nichts von dem was mir diese Beziehung zu schenken vermochte. Nichts vom neu gefundenen Leben nach meiner Flucht. Nichts Gutes war geblieben. Nur dieser Turm in dem ich mich verschanzte. In dem ich gefangen war. Jede einzelne meiner Tränen schien die Risse im Gemäuer zu verstärken. Jede einzelne von ihnen war Zeugnis der Katastrophe. War Zeugnis des Sieges der Verzweiflung über mein Leben. Zeugnis eines Sieges über mich. Verzweiflung war der Name der Pest die alles hinzuraffen drohte. Es gab nichts worauf ich bauen konnte und keine Wunder auf die ich zu hoffen wagte.

Was mich überleben ließ, war einzig und allein die Wiederbelebung meiner Masken. Neues Spiel. Neuer Kampf. Ich wusste nicht, dass ich schon bald aufs Neue auf eben dieses Spiel mit den Masken angewiesen sein würde. Denn schon bald würde sich Leipzig unerwartet und mit voller Härte in Erinnerung rufen und den Kokon, der mich seit meiner Beziehung zu Alexander umgab, aufreißen. Seine Hülle war bereits angerissen und so war es für Leipzig ein Leichtes ihn ganz zu durchbrechen und mir in seiner ganzen Überlegenheit gegenüberzutreten.